Wege zu mehr Gerechtigkeit nach sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend
Ein Forschungsprojekt der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch
Unrecht - damals und heute
Sexuelle Gewalt, sexuelle Übergriffe, sexueller Kindesmissbrauch – wie auch immer die Taten bezeichnet werden, es handelt sich um ein schweres Unrecht.
Verletzt wurden die Rechte von Kindern und Jugendlichen, die in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen festgeschrieben sind. Verstoßen wurde in vielen Fällen gegen Paragraphen des Strafrechts, in anderen Fällen überschritten die Taten diese Schwelle nicht. Unrecht ist es trotzdem.
Unrecht besteht weiter, auch wenn Taten so lange zurückliegen, dass sie inzwischen verjährt sind, auch wenn nie eine Strafanzeige gestellt wurde, auch wenn Täter oder Täterinnen inzwischen verstorben sind oder Institutionen, in denen Gewalt ausgeübt wurde, nicht mehr existieren.In vielen Fällen wurde das Unrecht nie anerkannt, wurden Taten geleugnet und Täter bzw. Täterinnen nicht zur Verantwortung gezogen.
„Zu Gerechtigkeit gehört, den Betroffenen ein Sprachrohr zu geben.“
(Betroffenenzitat)
Es stellt sich die Frage, ob Gerechtigkeit möglich ist und wie sie erreicht werden kann.
Das Forschungsprojekt will folgenden Fragen nachgehen:
• Welche Wege können aus der Perspektive von Betroffenen sexuellen Kindesmissbrauchs zu gerechteren Verhältnissen im Hier und Heute führen und wer soll dafür Verantwortung übernehmen?
• Was erwarten Betroffene vom Rechtssystem und wie sehen Vertreter*innen der Justiz die Erwartungen Betroffener?
• Können Erwartungen Betroffener an gerechtere gesellschaftliche Verhältnisse – z.B. hinsichtlich Entschädigungen oder der Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe – verwirklicht werden?
• Gibt es Verfahren jenseits des (Straf-)Rechts, die zu mehr Gerechtigkeit beitragen können? Welche sind das?
• Welche Bedeutung hat die Auseinandersetzung mit Unrecht unter den gesellschaftlichen Bedingungen der 1950er bis 1990er Jahre für den Schutz heutiger Kinder und Jugendlicher?
Weitere Fragestellungen werden im Verlauf des Projekts entwickelt.
Forschungsprojekt zu Erwartungen von Betroffenen an Aufarbeitung und die Aufarbeitungskommission
Das Forschungsprojekt „Wege zu mehr Gerechtigkeit nach sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend“ baut auf der Studie „Erwartungen Betroffener von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend an gesellschaftliche Aufarbeitung“ auf. In der 2019 abgeschlossenen Studie wurden von sexuellem Missbrauch betroffene Frauen und Männer unter anderem nach ihrem Verständnis von Gerechtigkeit befragt. Es zeigte sich ein Ringen um die Frage, ob Gerechtigkeit nach dem Erleben sexueller Gewalt überhaupt möglich ist.
Auch wenn verneint wurde, dass es Gerechtigkeit geben kann, weil man die Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann, gab es doch vielfältige Überlegungen, dass etwas gerechtere Verhältnisse möglich sein können. Und es wurde beschrieben, welche Schritte oder Maßnahmen dazu nötig sind: Dazu gehörten u.a. die Anerkennung der eigenen Unschuld und die klare Feststellung der Schuld der Täter bzw. Täterinnen. Diskutiert wurde die Frage der Bestrafung der Täter und Täterinnen. Hier fanden sich sowohl Positionen, die sich für eine Verschärfung der Strafen aussprachen, als auch solche, die explizit dagegen argumentierten. Ein weiteres Thema war die Anerkennung von Leid und Unrecht. Es ging den Interviewpartner*innen um konkrete Verbesserungen der Lebenssituation von Menschen, die heute an den Folgen der Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend leiden. Sie sollten nicht nur eine gute Unterstützung bekommen, sondern auch die Chance, als Akteurinnen und Akteure auf dem Weg zu einem besseren Leben selbst wirksam zu werden.
Den Bericht des Vorgängerprojekts können Sie hier herunterladen.
An diese ersten Ergebnisse soll im Rahmen des Forschungsprojekts angeknüpft und sie vertieft werden. Dazu wird eine Sekundärauswertung der Interviews durchgeführt. Dies wird der Schwerpunkt des Forschungsprojekts sein. In den Interviews liegt noch sehr viel Spannendes, das in einem ersten Auswertungsdurchgang nur oberflächlich erfasst wurde.
Neue Daten werden nur begrenzt erhoben, z.B. durch eine kleine Zahl von Gruppendiskussionen, zu denen gezielt eingeladen wird. Diskutiert werden soll sowohl mit Betroffenen – Expertinnen und Experten aus Erfahrung – und Vertreterinnen und Vertreter der Justiz, die aus ihrer professionellen Perspektive daran mitwirken wollen, Wege zu mehr Gerechtigkeit zu finden.
Unter "Aktuelles" infomieren wir über den Verlauf des Projekts.
Zitate von Betroffenen
- "Also zu Gerechtigkeit gehört für mich, Dinge beim Namen zu nennen, so wie sie sind."
- "Es könnte gerechter werden, durchaus. Aber ich glaube nicht, dass es je gerechter geht."
- "Dass man in die Ecke gedrängt wird, man ist ja selbst schuld. Das ist für mich das Ungerechteste, was es gibt."
- "Zu Gerechtigkeit gehört auch ein Rechtssystem. Angemessene Strafen."
- "Es ist nicht wichtig, ob der zu fünf oder 35 oder 85 Jahren verurteilt wird. Interessiert mich nicht." "Die Folgen habe ich ja trotzdem."
- "Und das andere Element von Gerechtigkeit ist, dass die Institution, die das verdeckt hat, ebenfalls zur Rechenschaft gezogen wird."
- Gerechtigkeit ist: Dir ist was schlimmes passiert, wir bezahlen das, alles klar."
Partizipative Forschung
Die Studie wird partizipativ unter aktiver Beteiligung von Erwachsenen, die in Kindheit oder Jugend von sexueller Gewalt betroffen waren durchgeführt.
Eine feste Forschungsgruppe aus Betroffenen wird gegründet, die sich regelmäßig trifft, die Forschungsfragen weiterentwickelt und Auswertungsschritte diskutiert. Um eine größere Anzahl von Interessierten einbinden zu können, werden zusätzlich drei Fokusgruppen durchgeführt.
Der Betroffenenrat und die Unabhängige Aufarbeitungskommission werden über die Fortschritte des Projekts informiert.

Das Forschungsprojekt wird von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch finanziert.
Ein Ethikgutachten der Ethikkommission der Alice Salomon Hochschule Berlin wurde eingeholt.
Es wird durchgeführt vom Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen Freiburg SoFFI F. im Forschungsverbund FIVE.
Projektleitung: Prof. Dr. Barbara Kavemann
Projektmitarbeiter*innen: Bianca Nagel (M.A.) und Adrian Etzel (M.A.)
Institutsleitung: Prof. Dr. Cornelia Helfferich
Sie können das Forschungsteam über das untenstehende Kontaktformular oder über info[at]forschungsprojekt-gerechtigkeit.de erreichen.